Toki Nirik: Wir sind eine Dunkelziffer
Sie lebt, sie leben, sie sind da, sie melden sich, sie lernen sich untereinander kennen, sie erwachen, sie sind mutig, sie verspüren den Wunsch zu leben, sie sind sehr sehr klug und hochgradig intelligent, sie bringen psychologische Themen, die alle Menschen betreffen können, derartig gut fundiert und klar durchdacht in ihrer Essenz aufs Tablett, dass einem die Kinnlade runterfällt.
Da mir schon Krimis zu viel sind und ich dabei oft wegschauen muss, frage ich mich, wie ich es geschafft habe, diese 777 Seiten (eng bedruckt) zu lesen. Ich war zwar vorbereitet durch die Psychologin Michaela Huber, dennoch staune ich darüber. Ich wollte unbedingt wissen, was wirklich vor sich geht.
Nach Beendigung des Teil 1 dachte ich, dass ich nun bereits, na ja, nicht alles weiß, aber doch eine gute Grundlage besitze. Doch weit gefehlt: Im zweiten Teil geht es erst richtig los.
Am meisten beeindruckte mich der Hinweis am Anfang ihres Buches, dass sie sich nie aus der Ich-Perspektive sehen kann und somit nicht das wahrnimmt, was ihre Leser nach der Lektüre ihres Werkes wahrnehmen.
Genauso stark beeindruckte mich, dass sie meint, dass der Wille nicht gebrochen werden kann und dass Gedanken nicht getötet werden können.
Die Art der Entstehung des Buches spricht Bände. Während des Lebens, von dem sie Erinnerungsabschnitte berichtet, kommt erst nach und nach heraus, was eigentlich los ist. Sie lässt uns an diesem Prozess teilhaben. Auch bringt das Schreiben selbst viele Tatsachen und Zusammenhänge hervor. Es ist kaum nachvollziehbar, wie eine Alltagsführung überhaupt gelingen und einigermaßen erträglich sein kann.
Was für einen Lebensgang sie haben, ist so ungeheuerlich, dass … ich sprachlos werde.
In diesem Buch ist nichts gemacht, nichts gekünstelt, nichts manipuliert. Es sprechen ein scharfer, klarer, heller Verstand, es sprechen Kleinstkinder, Jugendliche, Täter-Opfer, Subsysteme, Teams … und ein lieber Mensch, der sich an seine bewusst definierte Aufgabe hingibt und alles dafür gibt.
Ich persönlich bin zutiefst dankbar dafür, dass die Nirik uns all das bereitgestellt haben, die Prozesse, die vielen Stimmen, die Geschehnisse, die Auseinandersetzung mit Vorurteilen, die wissenschaftlichen Kapitel … es ist wirklich ein Geschenk an die Welt. Und das in dieser Sorgfalt. Danke, Toki Nirik.
Und die Fachleute sollten sich die Zeit nehmen, das Buch von vorne bis hinten zu lesen, auch wenn es lange dauert, und die vielen Quellen hinzunehmen.
Vollste Leseempfehlung, besonders an Fachleute.