
Gespräch mit Sylvain Coiplet im Institut für Soziale Dreigliederung Berlin
- August 2024
https://www.dreigliederung.de/institut
https://www.dreigliederung.de/profile/sylvain-coiplet
von Ulrike Stein
Teil 1
https://zukunftswerkstatt.events/sylvain-coiplet-ulrike-stein-teil1/
Solange ich nicht gesprochen habe, war ich sehr kommunikativ.
Sylvain Coiplet über seine Kindheit und Jugend
„Das wird toll! Da kannst du dich drauf freuen, glaub mir! Und bring genug Zeit mit!“
So entließ mich Matthias, der Veranstalter des Online-Kongresses Zukunftswerksatt – Wie wollen wir leben? Schluss mit Krisen – Neue Wege braucht das Land, in das Gespräch mit Sylvain Coiplet.
Vorher hatte ich auf seiner sehr umfangreichen Website gelesen und den Eindruck gewonnen, dass Sylvain ein sehr stark wahrnehmender, sanfter und musischer Mensch ist.
Das Wetter ist sehr schön an diesem achten August, als ich mein Rad nehme und neunzig Minuten Zeit für den Weg einplane. Ende der 1980er Jahre habe ich in Kreuzberg 62 gelebt und bin von dort aus auch oft in Kreuzberg 36 gewesen, wo sich das Institut für Soziale Dreigliederung befindet. So viele Orte, an denen ich vorbeiradele, tragen ein bisschen von meiner Geschichte, und manches davon kann ich nur schemenhaft erinnern. „So ist das also mit dem Vergessen“, sinniere ich unangenehm überrascht. „Wie wird das in zwanzig Jahren sein?“
Ich sehe das Schild Liegnitzer Straße und mache zehn Minuten Rast auf einer Bank am Landwehrkanal. Kreuzberg hat noch immer ein ganz anderes Gesicht als Charlottenburg – hier lebe ich seit 25 Jahren. Als ich zur Nummer 15 komme, ploppt die Erinnerung an eine Party hoch, die womöglich genau in diesem Haus stattgefunden hatte: Eine Frau erzählte dort von der Ermordung eines Mannes, der sie und ihre Tochter im Zelt in Griechenland, oder vielleicht war es auch Zypern, überfallen hat. Doch wer hatte mich eingeladen? Wo sind die detaillierteren Erinnerungen?
Das Institut für Soziale Dreigliederung befindet sich im zweiten Hinterhof, auf dem man nach links abbiegen und an mehreren Gewerbetoren vorbeigehen muss, im hintersten Eck. Ich drücke den falschen Klingelknopf. Dann drücke ich den richtigen und sofort schaut ein jugendlich wirkender, energiegeladener Mann aus dem Fenster und sagt „Ich komme runter!“ Vertrautheit und Offenheit strahlen von seinem Gesicht und ich wundere mich nicht darüber. Er wirkt wie Mitte dreißig, höchstens, und nicht wie Mitte fünfzig. So ein freundliches und echtes Lächeln sehe ich leider nur selten.
Wir gehen in den ersten Stock des ehemaligen Fabrikgebäudes. Es duftet nach frischem, geleimtem Holz, sehr angenehm. Sylvain hat viele Regale bis hoch unter die Decke gebaut, die schön aussehen und Platz für viele Bücher und auch andere Dinge bieten. Wie setzen uns an einem Tisch gegenüber. Die Ecken des Tisches fehlen, was das Miteinander sehr angenehm macht.
Sylvain spricht mit leiser, schöner sonorer Stimme. „Er arbeitet bestimmt auch irgendwo als Sprecher“, denke ich mir.
„Ich habe auf deiner Website gelesen und den Eindruck bekommen, dass du ein sehr sehr sensitiver Mensch bist“, beginne ich unser Gespräch und ernte sofort eine steile Stirnfalte.
„Sollte ich so daneben liegen?“, frage ich mich, „oder ist das zu persönlich für den Anfang? Aber genau das macht ihn doch fundamental aus!“
Ich wische meine Sorgen beiseite und sage: „So würde ich es bezeichnen: sensitiv.“
„Hmh mhh“, bestätigt Sylvain.
„Sensitiv fühlend, und zwar von klein an. Sensitiv sind vielleicht alle, aber du bist es vielleicht jetzt noch. Und was mich besonders angesprochen hat, ist, dass du mit fünf Jahren von einem Schweigenden zu einer Leseratte geworden bist.“
„Hmh mhh, stimmt.“
„Das heißt, dass du als kleineres Kind eher schweigsam warst.“
„Ich habe gemerkt, dass man mich nicht verstehen kann. Dann habe ich es lieber gleich gelassen. Es konnte mich nur eine Person verstehen und mit der habe ich gesprochen.“
„Eine menschliche Person?“
„Meine Mutter. Die konnte raten, was ich meine.“
„Aah … Dann hattest du eine tolle Mutter, in dem Sinne, dass sie auch das Nichtnormale für wahr genommen hat bei ihrem Sohn, bei dir.“
„Hmh mhh. Ich habe nur eine einzige Silbe gesprochen.“
„Tatsächlich!“
„Das war ein ganzer Satz.“
„Wirklich! Und sie hatte das verstanden! Wie ist das möglich?“, frage ich staunend.
„Das weiß ich nicht.“
„Hat sie denn auch geantwortet oder war es ohne Worte?“
„Sie hat ganz normal gesprochen.“
„Wahnsinn“, flüstere ich, „das ist ja spannend.“
„Deshalb hat sie mich mit viereinhalb aus dem Kindergarten genommen und mit mir begonnen abzulesen. Durch die Unterstützung der Schrift habe ich dann sprechen gelernt. Ich habe alles drei gleichzeitig gelernt: lesen, schreiben und sprechen.“
„Aber du hast ja vorher schon verstanden!“
„Das war nicht das Problem. Das Problem war nur, dass man nicht versteht, was ich sage.“
„Es war ja alles normal und es war keine geistige Behinderung, nur der Ausdruck war sehr speziell.“
„Deswegen sagte ich Sprachloser. Ich hatte nur ein geringes Repertoire an Vokalen und Konsonanten.“
„Hmh mhh … Gibt es dafür auch einen Grund, oder …?“
„Das weiß ich nicht. Ich habe erst vor einiger Zeit erfahren, als ich nachgebohrt hatte, dass ich mit ihr gesprochen habe. Das wusste ich nicht.“
„Das hat sie dann mal erzählt!“
„Ja!“
„Das ist aber schön!“
„Ja. Ich hatte nicht die Erinnerung, dass ich mit ihr gesprochen habe. Aber ich habe die Erinnerung, wie ich sprechen gelernt habe. In dem Alter war ich voll bewusst, das heißt ich kann mich erinnern, welches Wort ich in welchem Buch gelernt habe.“
„Wirklich!!“
„Bis zweieinhalb war ich nicht bei meiner Mutter. In Frankreich gibt man oft die Kinder ab, damit man arbeiten kann, und ich habe die Erinnerung an diesen Ort. Aber ich war noch einmal dort, sodass ich nicht sicher sein kann, ob meine Erinnerung von damals ist. Die Architektur kenne ich noch ganz genau. Es war an einem Hang. An die Personen kann ich mich kaum noch erinnern.“
„Die Psychologen sagen, dass es nicht normal ist, sich an die Zeit vor dem dritten Lebensjahr zu erinnern. Nicht schlimm, dann sind wir eben nicht normal. Apropos schlimm, war es schlimm für dich, nicht normal zu sprechen, sondern mit einer Silbe?“
„Ich habe mich anders verständlich gemacht.“ Sylvain gestikuliert.
„Mit Händen! Also war es keine Isolierung.“
„Ja.“
„Interessant.“ Mein Staunen nimmt kein Ende.
„Und das ist auch geblieben. Vor Kurzem wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass ich mehr mit den Händen rede als mit der Stimme, dass die ganze Kraft eigentlich hier ist.“ Er zeigt auf seine Kehle.
„Wer hat das gesagt?“
„Eine Sprachgestalterin in der Schweiz. Sie sagte, wenn ich es schaffen will, hier“, er zeigt auf seinen Hals, „zu sprechen, dann muss ich das hier“, er zeigt auf seine Arme, „zurücknehmen.“
„Das ist interessant! Willst du das?“, lache ich.
„Wenn ich darauf aufmerksam geworden bin … ja!“, schmunzelt er und wir lachen beide.
„… nur dass ich das gar nicht gemerkt habe. Ich dachte, das kommt aus der Eurhythmie, aber es kommt aus der Kindheit. Ich habe mich wirklich so mit allen verständigt, französisch, spanisch, kein Problem. Wenn man mich nach meinem Namen gefragt hat, habe ich auf mich gezeigt.“
„Du hast wahrscheinlich viel vom Herzen aus gesprochen. Die Arme, das Herz und die Kehle gehören ja zusammen. Und viele Menschen sprechen vom Kopf her in die Kehle, und von da nach unten schwingt nicht mehr viel.“
„Wenn ich schon rede … dann ist es … Ja.“
„Und es ist die Frage, für wen es wichtig ist, dass der Ausdruck mit den Händen und Armen weniger wird, damit der Ausdruck mit dem Kehlkopf lauter wird.“ Ich will nicht lockerlassen und suggeriere: „Es ist vielleicht gar nicht so wichtig.“
„Es ist wichtig, weil ich so keine Vorträge halten kann und nur Seminare geben kann.“
„Dafür gibt es doch Mikros.“
„Ja, aber ich kann die veränderte Stimme nicht ertragen. Meine Stimme ist mit Mikro sehr viel höher. Sie ist mir dann zu fremd. Ohne Anlage aber mit Kopfhörer würde es gehen, da gibt es welche, wo die Höhe bleibt. Dann würde es mich nicht stören.“
„Da gibt es bestimmt eine technische Möglichkeit. An und für sich finde ich es nicht wichtig, dass jemand extra laut spricht und seine Ausdrucksart mit dem Körper zurücknimmt, damit das andere mehr ist.“
„Aber ich habe viel mit älteren Menschen zu tun und da braucht es mehr. Die Leute, die Mitte zwanzig sind, haben kein Problem. Das Tiefe ist das erste, was man nicht mehr hört.“
„Ja. Meine Assoziation zu dem Schweigen und Sprachlossein war ganz anders. Es hatte bei dir gar nichts mit innerem Rückzug zu tun.“
„Der Rückzug kam später. Solange ich nicht gesprochen habe, war ich sehr kommunikativ. Aber in dem Moment, wo ich gelesen habe, war der Rückzug da. Da habe ich die Welt gar nicht mehr wahrgenommen. In Nachhinein hatte meine Mutter gedacht, dass sie wohl einen Fehler gemacht hat, dass sie mir das Lesen beigebracht hat!“
Wir lachen.
„In Frankreich fangen die Kinder sehr früh an zu lesen. Das Intellektuelle ist fast Volkskrankheit. Mit sieben habe ich Freud gelesen, den habe ich nicht gemocht.“
„Freud mit sieben!!“
„Aber da habe ich verstanden, was bestimmte Erwachsene komisch machen. Wenn sie daran glauben, ist man als Kind nicht sicher mit denen. Bücher waren für mich da, um die Menschen zu verstehen. Mit zwölf las ich Hesse. Die Jugendlichen und ihre Suche habe ich mit Hesse verstanden.“
„Und mit vierzehn hast du dann schon Steiner gelesen.“
„Ja.“
„Es gibt nur wenige Menschen, die in dem Alter schon solche Dinge lesen.“
„Was mich beschäftigt hat, wäre für sie völlig fremd gewesen, und das war ein Teil meiner Isolation. Die ersten, mit denen ich wirklich Kontakt aufgenommen habe, waren die Waldorfschüler. Sie haben versucht, mir die Noten rauszulocken. Ich habe gesagt: ‚Über Noten rede ich nicht.‘ Dann war ich fertig. Aber die Waldorfschüler hat das auch nicht interessiert. Sie hatten ganz andere Fragen. Das war, als meine Schwester zur Waldorfschule gegangen ist; sie ist zehn Jahre jünger als ich. Deswegen war ich schon in der zehnten Klasse eigentlich. So habe ich Kontakt zur Oberstufenschülern aus ihrer Schule geknüpft, die mein Alter hatten. Zwei haben bei uns gewohnt. Ich bin als Fremdschüler in die Oberstufe reingekommen. Die Schule selber hat mich nicht aufgenommen; die haben mich abgelehnt. Aber ich wollte rein; es hat mir gefallen. Aber es gab ein Veto von einem Lehrer, weil er gemerkt hat, dass ich zum Nachhilfelehrer geworden bin für seine Schülerinnen, und er wollte nicht, dass ich mein Abitur vermassele, weil die so schlecht in Mathe sind. Ich habe gedacht: ‚Wenn er denkt, dass es an ihnen liegt, dann ist es kein Wunder!‘“
„Ja … Und die Schulzeit insgesamt, war die dann eher langweilig für dich?“
„Nein, nicht langweilig. Mich hat alles interessiert. Was für mich schwierig war, war meine Konzentration, dadurch dass ich gespürt habe, dass die anderen das gar nicht wollten.“
„Was wollten sie nicht?“
„Sie wollten nicht da sein.“
„Ja …“, flüsternd, „ja …“
„Also, darunter habe ich gelitten, dass sie eigentlich nicht das machen können, was sie lieber machen würden. Da habe ich sogar mal dem Lehrer gesagt: ‚Warum schickt ihr die nicht auf den Hof – dann können wir arbeiten!‘“
„Oh mein Gott! Du hast mitbekommen und gespürt, dass die anderen darunter leiden, dass sie in der Schule sitzen, und dass sie eigentlich was ganz anderes lieber machen würden, dass sie sich abquälen – was ja auch Usus ist. Du aber brennst darauf zu lernen. Ich hatte mir jetzt vorgestellt, dass du vom Stoff her schon weiter warst, dass du es schneller verstanden hast und dass es deswegen langweilig war, weil du alles mitgedacht hast und schon das Nächste kennenlernen wolltest.“
„Nee, ich habe andere Sachen für mich studiert dann. Nebenbei. Was nicht in der Schule zu lernen war.“
„Das gibt’s ja nicht!“, lache ich. „Also, du wärest gern mit den Lehrern im Stoff gewesen und schnell und tief durch die Sachen durchgegangen.“
„Zum Teil bin ich im Gespräch mit vielen Lehrern gewesen, weil sie den Eindruck hatten, dass ich mich dafür interessiere, was sie tun. Ich wollte aber nicht, dass es schleimig wirkt, und deswegen habe ich zum Beispiel nicht über Noten gesprochen. Es wusste außer den Lehrern niemand, was für Noten ich habe. Mit einem Lehrer habe ich zum Beispiel darüber gesprochen, dass sich die Kinder immer weniger interessieren, und dass er gespürt hat, dass es von Jahr zu Jahr runtergeht. Das war einer, der stärker engagiert war. Das waren zum Beispiel Gesprächsthemen. Einem habe ich vorgeschlagen, dass man vielleicht das, was ich neben der Schule studiert habe, machen könnte. Doch er meinte, das stehe nicht auf dem Programm. Da war er für mich eigentlich abgeschrieben. Als Kind kannte ich überhaupt kein Pardon!“
„Und was waren das zum Beispiel für Nebenthemen?“
„Griechische Mythologie.“
„Griechische Mythologie!“
„Ja.“
„Für welches Fach?“
„Der hatte Französisch.“
„Also passte es gar nicht.“
Wir lachen.
„Super! Super! Ja! Jaa! Ich stelle mir das jetzt so vor, dass du eigentlich als Junge und als Jugendlicher darunter gelitten hast, dass das ganze Wissen nicht richtig kam, nach dem du gebrannt hast.“
„Ja.“
„So wie wenn du eine Tomatenpflanze hast. Die wächst da fleißig und die Sonne scheint auch toll, aber es kommen immer nur zwei Tropfen Wasser, und dann hängt sie ganz schnell, hat aber Lust, die Tomaten zu entwickeln! Dann kommen wieder drei Tropfen Wasser, dann geht’s wieder ein bisschen … Dass man verhungert an dem, wer man eigentlich ist. Wenn du jemand bist, der sehr schnell sehr viel wissen möchte und sehr schnell auch lernt, dann brauchst du ja auch entsprechende Lehrer.“
„Hmh. Das war sehr schwankend. Es war sehr stark je nach Beziehung – das hat mit dem Alter zu tun. In Frankreich hat man jedes Jahr den Lehrer gewechselt. Das heißt: Ein Jahr ging gut und ein Jahr ging nicht gut. Eine Lehrerin in der dritten Klasse kam aus Kanada, es war ein Austausch. Sie hatte ihre Sachen von dort mitgenommen. Sie hatte einen ganz anderen Stil. Sie hat nicht gepfiffen, wenn wir in den Hof gehen sollten. Das hat mir gefallen. Die Persönlichkeiten waren sehr unterschiedlich von Jahr zu Jahr. Die Persönlichkeiten waren für mich wichtiger als das Wissen.“
„Du hast über die Persönlichkeit etwas wahrgenommen und aufgenommen und dann verarbeitet und für dich genutzt.“
„Ich musste spüren, dass die Leute zu dem stehen, was sie tun. Ich konnte keinen Zugang zu konventionellen Lehrern finden. Vielleicht weil meine Mutter konventionell war.“
„Es war dir also nicht zu langweilig in der Schule.“
„Nein, absolut nicht. Ich habe nur frei genommen, weil ich selber lernen wollte. So wie in der Mittagspause – da habe ich auch die ganze Zeit nur gelesen.“
„Also hast du deine Freizeit dazu genutzt, sehr viel zusätzlich zu studieren, nicht nur die Hausaufgaben zu machen oder so, sondern ganz viele andere Sachen noch gleichzeitig.“
„Ja. Aber dadurch hatte ich mit den Schülern keinen Kontakt. Mit einigen Lehrern ein bisschen. Und alle haben gedacht, ich würde das studieren, was ihr Fach ist“, er lacht, „aber ich habe mich für ziemlich viel interessiert!“
Ich lache auch: „Oh, das wird mal ein guter Chemiker, das wird mal ein guter Mathematiker …“
„Das ging so bis zum Abitur, das war lustig. Da haben sie gedacht, ich werde Biologe, ich werde Historiker …“
Wir amüsieren uns herzhaft.
„Aber das stimmte wahrscheinlich auch, weil du in den Fächern jeweils so viel erfasst hast.“
„Hmh mhh.“
„Heutzutage würde man sagen hochbegabt.“
„Eigentlich ist es für mich eher hochverliebt. Sachen, die ich liebe, vergesse ich nicht. Was im Unterricht gesagt wurde, war drin, weil ich mich damit verbunden habe.“
„Weil es dich wirklich vom Herzen her, von deiner Liebe her, betroffen hat, deswegen konntest du ganz viel weiter dazu lernen.“
„Ansonsten haben sie gedacht, dass ich begabt bin, aber ich habe auch massiv gearbeitet. Sie hätten nicht ahnen können, wieviel ich da arbeite. Es war nicht Begabung in dem Sinne, dass es leichtfällt.“
„Wieviel ein begabter Mensch für seine Begabung tut, können viele gar nicht nachvollziehen. Begabung heißt ja nicht, dass es von alleine geht.“
„Ich habe immer versucht zu messen. Zwei Wochen kann ich fehlen, so dass ich den Stoff noch nachholen kann.“
„Ah!! So lange hast du dann Freizeit gemacht!“
„Ja.“
„Cool!!“
„Ich hatte ein paar Schüler, deren Aufzeichnungen verlässlich waren, und so konnte ich das gut nachholen.“
Wir kichern wie zwei Teenies.
„Und das konntest du ja wahrscheinlich auch ziemlich schnell nachholen und du hast es auch gerne gemacht. Die anderen hätten sich gequält und hätten es gar nicht geschafft oder hätten ein Fünftel geschafft und zwei Wochen später hätten sie es schon wieder vergessen – so ist das normale Lernen – das ist ja gar kein echtes Lernen. Das ist ja fantastisch! Das ist ja ein Supersystem gewesen!“
„Ich habe eigentlich nicht gelitten.“
„Ja! Du hast dir das sehr gut eingerichtet!“
„Bis zuletzt war ich interessiert genug, dass es für mich keine Last war.“
„Ja! Und deine Mutter hat auch mitgemacht. ‚Ok, dein Schnupfen ist kaum zu sehen …‘“
Sylvain lacht.
„‘… aber ich verstehe schon: Bleib Zuhause!‘“
„Sie hat damit angefangen. Sie hat mich morgens nicht geweckt, weil sie die Schule nicht gemocht hat.“
„Echt?? Toll!“
„Das war für mich die absolute Katastrophe anfangs. Ich wollte lernen und sie meinte, dass man das eigentlich nicht braucht. Mit der Zeit habe ich was daraus gemacht.“
„Ah, ach so war das. Das Fiese war, dass sie es gemacht hat, ohne es mit dir abzusprechen.“
„Genau.“
„Sie hat dir im Grunde genommen das, was dir wichtig ist, nämlich zur Schule zu gehen, weggenommen.“
„Hmh.“
„Das ist nicht fair.“
„Aber trotzdem kann man das zum Guten wenden.“
„Ja, du hast es ja auch zum Guten gewendet, und ich glaube, in ihr war auch eine gute Absicht. Sie hat ja mitbekommen, wer ihr Sohn ist.“
„Genau. Sie hat irgendwas versucht, dass ich nicht so einseitig werde. Die Schule war für sie sehr brutal. Sie kommt aus einer Arbeiterfamilie, und ihr Vater ist mit zehn aus der Schule raus, aber er hat sie abgefragt, das Wörterbuch. Er war in der Armee gewesen und dort zuständig für die Bibliothek. Er war der Einzige, der sich dafür interessiert hat. Sie hat geistiges Interesse mitgenommen, aber da war keine Nahrung. Deswegen haben wir die Sachen eher fast gemeinsam entdeckt. Hesse war ihre Initiative. Ich hatte eigentlich einen Stapel Bücher. Ich hatte immer hundert. Ich konnte einmal im Jahr Bücher einkaufen und die habe ich mit meinem Vater gebraucht gekauft, und dann hatte ich meinen Stapel. Und sie hat Demian von Herrmann Hesse dazwischengeschoben und gesagt, dass ich nur weiterlesen darf, wenn ich das Buch gelesen habe, was sie grade gelesen hatte.“
„Hat deine Mutter gesagt!“
Wir lachen.
„Warum hat sie das gemacht?“
„Ich war zwölf. Sie hatte es gelesen und dachte, dass ich es mal lesen soll. Sie hat alles nachgeholt, was sie in der Kindheit nicht hatte. Dann habe ich den Stapel nicht weitergelesen, sondern Herrmann Hesse ganz gelesen. Der Stapel hat mich dann nicht mehr interessiert.“
„Und hat dein Vater dir denn die Möglichkeit gegeben, 99 Hesse-Bücher in demselben Jahr noch …“
„Wir haben sie zwischendurch noch gekauft. Rückwirkend konnte ich verstehen, was diese Jugendlichen in sich getragen haben, was sie treibt, was sie suchen. Die Suche nach etwas, von dem man nicht weiß, was es ist.“
„Und das hast du auf die anderen bezogen und nicht so sehr auf dich.“
„Ja. Und es war in den 1970er Jahren Mode, Herrmann Hesse zu lesen.“
„Ich wurde 1963 geboren und habe Hesse später gelesen, nicht mit 12, so wie du. Und ich hatte den Eindruck, die anderen sind für diese feineren Gedanken oder Suchen und Empfindungen gar nicht bereit; die ticken ganz anders, die sind materialistisch drauf. Die Leute um mich rum waren eher tumb und stumpf und ganz auf das Äußere bezogen und auf Statussymbole und so. Ich habe da mein eigenes Innenleben wiedererkannt und eben gerade nicht das der anderen.“
„Ok.“
„Und du hast aber erkannt, was in den anderen Mitschülern vorgeht.“
„Nicht den Schülern, den Jugendlichen. Bei uns hat eine Tante gewohnt, die acht Jahre älter war als ich, die Schwester meiner Mutter. Sie hat sie aufnehmen müssen, weil sie sich mit ihrer Mutter gestritten hatte. Meine Mutter hat darauf bestanden, dass jeder, der mit ihrer Schwester zu tun hat, zu uns kommen und sich vorstellen muss. Es waren so zehn zwanzig Jugendliche; die waren immer wieder da. Sie waren sechszehn bis einundzwanzig Jahre alt.“
„Du hattest den Eindruck, dass es in diesen konkreten Menschen lebt. Und hattest du auch den Eindruck, dass diesen Menschen bewusst ist, dass es in ihnen lebt?“
„Das wusste ich nicht. Ich habe es als Stimmung gespürt.“
„Vielleicht gab es ja mal ein Gespräch …“
Sylvain schweigt ein paar Momente.
„Ich habe sehr wenig gesprochen“, er lacht, „eher wahrgenommen.“
„Du hast aber gehört, was sie untereinander sprechen.“
„Die brauchten nicht zu reden. Das war so eine Stimmung.“
„Wahnsinn! Deswegen habe ich gesagt: feinfühlig und sehr sensitiv. Das habe ich gedacht. Ich komme zu Sylvain und der ist sehr feinfühlig und sensitiv. Und das bestätigst du mir durch das, was du mir bis jetzt erzählt hast. Oder würdest du selber das gar nicht so sagen?“
„Dadurch dass ich so viel gelesen habe, habe ich gedacht, dass ich gar nichts wahrnehme. Erst wenn ich mich näher damit beschäftige, merke ich, dass ich zum Teil nicht kommuniziert habe, weil ich so empfindlich war.“
„Später, im Rückblick.“
„Ja. Gerade weil meine Mutter gesagt hat, dass ich vorher alles wahrgenommen habe, bevor ich angefangen habe zu lesen, ist nicht bestätigt, dass es angelegt war. Ich habe Sachen wahrgenommen nicht so über Wörter, sondern wie die Menschen eigentlich sind.“
„Sehr still zu sein und gleichzeitig sehr wach in der Wahrnehmung, das ist mir vertraut. Und vieles wahrzunehmen, was andere nicht wahrnehmen.“
„Wenn man zu viel redet, kann man nicht wahrnehmen. Wenn man still ist, kann man besser wahrnehmen. Mein Ideal mit zwölf war – ich habe sehr viel die Kulturen studiert – die Fähigkeit zu besitzen, ein Chamäleon zu sein und immer die Farben zu wechseln und jede Kultur von innen mitzumachen. Deswegen war es nicht so, dass ich sagte, dasunddas ist meine eigene Farbe.“
„Du konntest dich in alles Mögliche hineinversetzen, denkend, aber auch fühlend.“
„Hmh.“
„Das ist Engel Michael.“
„Das ist das, was mich bei der Anthroposophie dann angesprochen hat. Vorher habe ich alles, was Christentum ist, gemieden, weil es für mich moralisch und korrupt war. Wenn jemand etwas Gutes tut, damit er später bessere Karten hat?! Also, das geht für mich nicht.“
Wir lachen.
„Es ist völlig klar, dass das für dich nicht geht.“
„Aber was Steiner unter Christentum verstand, mit dem Interesse für die Unterschiede und wie jeder denkt, das Christliche eher fließend, das Persische, das Buddhistische, wenn das das Christliche ist, dann okay.“
„Michael unterstützt uns ja auf dem Weg zum Weltbürgertum. Tatsächlich sich vorstellen zu können, dass zum Beispiel ich genauso gut ein dunkelhäutiger Mann sein könnte, der in Sansibar sozialisiert wurde, oder eine muslimische Frau in der Sahara. Zu spüren, dass man selber auch diese Kultur haben könnte.“
„Das gehört zu den Sachen, die ich mitbringe.“
„Wir könnten auch das andere sein. Es trennt uns nicht. Und trotzdem ist es wichtig, der individuelle Mensch mit seinen Wurzeln zu sein. Du hast französische Wurzeln, bist aber relativ früh nach Deutschland gegangen, wegen Steiner.“
„Ja. Das Ideal hatte ich mit zwölf und das Individuelle ist erst später gekommen. Zu der Zeit bin ich nicht wirklich individuell gewesen. Gerade durch dieses Eintauchen-Wollen habe ich vielleicht die Beweglichkeit gehabt, aber das Individuelle war nicht so mein Ziel.“
„Also … Das Du-Werden in deiner Kindheit und Jugend ist sehr stark gekommen durch das viele Einfühlen in andere Menschen, Themengebiete, Fächer, Kulturen, Religionen und so weiter. Durch das viele Eintauchen und das Mitnehmen von vielen vielen vielen Dingen – das ist ja bei dir verglichen mit anderen jungen Leuten extrem viel – dadurch ist vielleicht auch deine Identität …“
„Ich hatte den Eindruck, ich kann mich nicht verlieren, deswegen kann ich wirklich eintauchen. Das Ichhafte ist für mich erst in Deutschland gekommen. In den letzten Jahren in Frankreich sah ich in den Augen der anderen sehr individualistisch aus, weil ich sehr sonderbar war. Aber das war gar nicht so, wie es sich angefühlt hat.“
„Du hast dich dann auch gar nicht so sehr mit deinen Wurzeln identifiziert.“
„Das Individuelle war, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass es ein zweites gibt davon. Deutschland war schon ein Schlag für mich. Wie eine Art Miscard und dann komme ich baff.“
„Und dann bist du Ich.“
„Ja. Vorher war die Selbstlosigkeit so stark in der Art, eintauchen zu wollen und mitzufühlen, da konnte ich das nicht von mir behaupten.“
„Das ist ja ganz stark so bei den Bodhisattvas. Die Bodhisattwas, die einmal ein Buddha werden. Da geht es ja ganz viel um das Mit- und Einfühlen in das Leiden anderer. Das hast du ja dann schon ganz stark mitgebracht.“
„Deswegen war Konkurrenz für mich undenkbar. Das Portrait von Dürer war für mich der Einschlag für das Ichhafte. Wie eine Lemniskate von außen zur Mitte hin.“
Sylvain zeichnet sie vor seinem Herzen in die Luft. „Und dann baff. Und im Nachhinein merke ich: Die Philosophie der Freiheit habe ich zwar schon mit achtzehn gelesen, aber ich war noch Kantianer. Es hat noch einige Jahre gebraucht, bis es Wurzeln gefasst hat.“
„Ich glaube, ich verstehe es. Denn deine Wahrnehmungs- und Handlungsbewegung ging nach außen.“ Ich zeichne Linien auf den Tisch, die von der Mitte nach außen gehen.
„Genau.“
„Nach außen, aber auch so“, ich zeichne eine Kurve nach innen bei jeder Linie, „denn du hast ja was genommen, nach innen, ganz viel.“
„Hmh mhh. Und das Grünschwarz auf dem Bild hatte auch irgendwie damit zu tun.“
„Dass man auch den Fokus auf dieses Mittlere legen kann. Und hatte es auch mit typisch deutschen Lebenseinstellungen zu tun?“
Teil 2
Ich muss die Dreigliederung vor ihnen in Schutz nehmen.
Sylvain Coiplet über sein Wirken
Sie müssen es lernen, aus ihren Leuten heraus zu arbeiten.
Sie müssen erhorchen, was ihnen aus den Mitgliedern entgegenkommt,
was da nötig ist.
Wenn Sie das können, wenn Sie dann wirklich aus dem innerlich lebendig Esoterischen heraussprechen oder lesen, dann werden Sie zu allen sprechen.
Dann wird jeder zu dem Seinigen kommen, einerlei ob alt oder jung, gebildet oder nicht gebildet. Jeder wird mitnehmen, was er braucht und womit er leben und arbeiten kann.
Rudolf Steiner zu Adelheid Petersen geb. von Sybel
„Ich kannte damals viele Deutsche, aber es war auch ein bisschen international, und da konnte man grade gut den Unterschied zwischen den Deutschen und den anderen spüren: das Individualistische als Ideal. Das war für die anderen ein bisschen schwierig, denn sie waren mehr mit dem verbunden, was sie mitbringen. Da konnte man immer wieder spüren, wie die Leute sich aneinander reiben.“
„Durch diese Reibung entsteht etwas.“
„Ja.“
„Ohne diese Reibung würde es nicht entstehen.“
„Ja.“
„Da war ein Du mit dabei. Vorher warst du es mit den vielen Menschen und Themen drumherum, mit denen du dich verbunden hast und aus denen du was genommen hast. Bei der Reibung passiert etwas anderes: Da sind zwei zusammen und reiben sich, es entstehen Wärme und vielleicht auch irgendwann eine Perle. Das ist eine andere Art des Lernens und Wachsens.“
„Und in dem Moment, als ich in Deutschland war, kam ich zur Dreigliederung. Vorher habe ich nachgeholt, was ich an der Schule nicht haben konnte: Eurhythmie, Projektgeometrie. Ich habe das abends mit den Mathematikern, die tagsüber in der Uni waren und abends den anthroposophischen Teil machten, nachgeholt. Das war Nachholen von dem, was ich gern alles gelernt hätte. Und ab dem Tag, an dem die Mauer gefallen ist, war es für mich nicht mehr vertretbar, dass ich was für mich mache. Solange die Welt für mich in Ordnung war, konnte ich mich darauf konzentrieren, das nachzuholen. Das Soziale hatte mich vorher schon stark beschäftigt, aber in der ganzen Zeit, in der ich mich mit Anthroposophie beschäftigte, war das sehr im Hintergrund. Wenn ich die zwei Jahre von 1987 bis 1989 nicht gehabt hätte, hätte wirklich was gefehlt.“
„Das erfordert auch tiefes Eintauchen, Hingabe und Geduld. Manches kann man nur kultivieren, wenn man wirklich allein ist. Das ist nicht nicht-sozial. Es fließt schon den anderen zu.“
„Ich habe da Kraft für mein Leben geholt. Das hat Sachen für mich sicher gemacht. Es ging mir um die Konsonanten – die gibt es im Französischen nicht in dem Maße – die wollte ich verstehen. Das war der Grund, warum ich Eurhythmie studiert habe. Gerade im zweiten Jahr habe ich eine Lehrerin gehabt, die das konnte. Im ersten Jahr nicht. Damit habe ich gefunden, was ich gesucht habe. Damit war ich solide genug, sage ich mal. Aus dem Mitgefühl heraus habe ich nach dem Schlüsselloch gesucht, und das Gespür der Notlage 1989 spielte auch eine große Rolle dabei.“
„Ja … Wohin soll es gehen …“
„Ja. Aber es gab auch immer wieder Momente, in denen ich spürte, dass ich wieder Kraft tanken muss. Ich habe in Berlin zehn Jahre in der IT gearbeitet als Feuerwehr. Wenn irgendwo was nicht funktioniert hat, habe ich das Problem gelöst. Das habe ich gemacht, weil ich meine Familie finanzieren musste. Mit dem Arbeiten in der Dreigliederung hätte ich mich allein versorgen können, aber nicht unsere Familie. 2015 hatte ich genug Spenden, um mich wieder auf die Dreigliederung fokussieren zu können. Ich habe mehrere Stunden am Tag Kunst gemacht, um mich wieder zu stärken. Das heißt: Wenn ich spüre, dass ich nichts mehr zu geben habe, dann bringt es nichts, weiterzumachen. Ich habe Programmierung gelernt, damit ich die Website machen kann. Das war ab 1999.“
„Ah ja!? Das war das Motiv: Du hast es für die soziale Dreigliederung gelernt!“
„Ja. Das wusste meine Frau natürlich nicht.“ Sylvain lacht. „Sie hat gedacht, dass ich es lerne, um die Familie zu ernähren. Es wurde durch Mund-zu-Mund-Propaganda zu meinem Beruf. Ich hatte das überhaupt nicht eingeplant.“
„Das klingt nach Übergangsphase. Eigentlich ist dieses Modell zu leben und zu arbeiten gar nicht sozial dreigegliedert.“
„Nee, aber dadurch, dass ich selbständig war, konnte ich meinem Gewissen folgen. Das heißt: Ich habe nie Bedürfnisse geschaffen. Meine Priorität war immer: Wie kann ich am besten selber zurechtkommen, und dadurch habe ich vier- bis fünfmal mehr Leute betreut als andere. Wenn man schon wirtschaftet, sollte man es nicht getrennt von der Dreigliederung tun. Es war aber keine Umsetzung in dem Sinne, dass ich viel ändern konnte. Ich konnte aber das ändern, was an mir liegt.“
„Insofern ist es schon ein Leben in Richtung soziale Dreigliederung, so wie es gerade geht.“
„In dem Bereich hat man Narrenfreiheit, weil die Leute gar nicht wissen können, was man da tut. Danach habe ich es gebraucht, wieder ein bisschen Kraft zu tanken. Das habe ich dann nicht mit Eurhythmie gemacht, sondern mit Malerei.“
„Das habe ich auf deiner Website gesehen.“
„2015 und 2016 habe ich es jeden Tag gemacht.“
„Das ist ein Ausgleich.“
„Ja. Deswegen: Etwas für andere zu tun, muss stimmen. Aber jetzt gleicht es sich durch die Aktivität selber aus: Ich habe einerseits die Forschung, andererseits die Seminare.“
„Bist du danach nicht erschöpft?“
„Drei bis vier Stunden bin ich hinüber, aber dann geht’s wieder. Denn die Seminare gehen über vier Tage und ich muss über diese vier Tage reden. Das mache ich etwa einmal im Monat.“
„Wenn du Seminare gibst, die dein Thema beinhalten, mit Menschen, die Interesse haben, ist ja die Ebene da, die du schon als Kind gespürt hast, und ob sie da ist oder nicht.“
„Genau.“
„Bei den meisten war sie nicht da. Ich stelle mir vor, dass dadurch diese vier Tage einen erheben und einem Kraft geben.“
„Die Leute bringen Interesse. Das brauche ich. Ich kann nicht vor Leuten sprechen, die das nicht mitbringen. Ich war mal eingeladen, ein Seminar an einer Hochschule zu geben, und ich habe es unter der Bedingung gemacht, dass die Teilnehmer keinen Schein dafür bekommen. Aber sie kamen über jemand anderen, also nicht aus eigenem Interesse. Das ist schiefgelaufen. Ich brauche also wirklich das Wollen und ich muss die Dreigliederung vor ihnen in Schutz nehmen, weil sie eigentlich nicht wissen, was damit gemeint ist.“
„Du musst die Idee von Steiner schützen.“
„Ja. Die ganze Zeit muss ich Wege finden, wie ich sie verständlich machen kann. Denn eigentlich wollen sie es nicht.“
„Auch die, die aus eigenem Entschluss kommen, wollen es irgendwo in sich nicht.“
„Sie wollen was anderes. Sie suchen Geist. Aber soziale Dreigliederung ist nicht Geist. Sie wollen im Sozialen was mit Geist tun.“
„Viele haben sich mit Steiner noch gar nicht so beschäftigt?“
„Das ist sehr unterschiedlich, läuft aber trotzdem auf dasselbe hinaus.“
„Das ist interessant, oder?! Dann bist du ja eigentlich parallel noch ein zweiter Lehrer für die Gruppe.“
„Ich muss es schaffen, sie für die beiden anderen Sachen zu interessieren. Sie haben die Haltung, dass das Geistige für sie das Ganze ist. Und alles, was sie von der Dreigliederung ergriffen haben, auch wenn sie es anders nennen, ist eigentlich nur Geistesleben.“
„Nur das haben sie ergriffen“, sage ich erstaunt und frage: „Was sind denn das für Leute, die da kommen?“
„Das sind die, die zur Anthroposophie gefunden haben, und da sucht man in der Regel nach dem Geist.“
„Das verstehe ich natürlich. Doch ich würde mich aus Eigeninitiative nicht in das Thema hineinarbeiten, weil ich es so schwer finde. Allein das Thema Rechtsleben finde ich schon sehr schwer und fremd. Und vor dem Thema Wirtschaftsleben stehe ich wie ein Ochs vorm Berge. Matthias zum Beispiel, den du gut kennst und der den Online-Kongress macht, hatte früher zusammen mit seiner Schwester drei riesige Gartencenter und stand unternehmerisch und was Pflanzen angeht, aber auch was das Monetäre angeht, mit beiden Beinen auf der Erde. Er kann mit dem, was uns am Leben erhält, umgehen. Ich kann das zum Beispiel gar nicht. Ich bin da Analphabetin. Deswegen würde ich mich scheuen, so ein Seminar zu besuchen, auch wenn mich die soziale Dreigliederung am Rande interessiert und ich über das Lektorat von Matthias‘ und Alex‘ Buch, was total viel Spaß gemacht hat, gerne etwas dazu gelernt habe. Ich sehe also darin eben nicht so viel Geistiges.“
„Du hast gesagt: das Unternehmerische, hm? Steiner rechnet das Unternehmerische nicht zum Wirtschaftsleben. Das Unternehmerische ist das, was der Einzelne sich aus den Fingern saugen kann, aus seiner Kreativität, und das ist für Steiner Geistesleben. Unter Wirtschaftsleben versteht er die Sachen, die man sich nicht selber aus den Fingern saugen kann. Viele bringen die Haltung mit: Man muss an sich selber arbeiten und dann läuft es weiter. Dann muss ich ihnen klarmachen, dass es in der Dreigliederung im Wirtschaftsleben gar nicht darum geht. Beim Wirtschaftsleben und beim Rechtsleben kommen Sachen dazu, die der Einzelne nicht kann. Die Qualität der unternehmerischen Tätigkeit selber ist geistig, aber es wirkt sich auf das Wirtschaftsleben aus.“
„Auch wenn er Autos baut, ist es geistig.“
„Ja.“
„Und alles, wo man den anderen Menschen mit braucht, was man nicht allein herstellen kann, das gehört in den Bereich Wirtschaftsleben.“
„Zum Beispiel die Tatsache, dass niemand Hunger hat, kann man nicht darauf reduzieren, dass es Unternehmer gibt, sondern die Preise müssen stimmen. Und der einzelne kann nicht wissen, was der andere für einen Preis braucht.“
Ich stöhne scherzhaft über meine Anstrengung, den Gedanken zu folgen, und wir lachen herzlich darüber.
„Ich habe immer wieder damit zu kämpfen, dass ich merke, dass die Leute was mitnehmen und guten Willens sind, aber völlig in eine Richtung geneigt sind. Und ich muss es schaffen aufzufächern, dass es für manche vielleicht nur ein Einstieg gewesen ist und in ihrem Bereich stimmig, aber dass die Dreigliederung weit darüber hinaus geht.“
„Was du mir jetzt gerade beigebracht hast, ist ja eigentlich eine grundlegende Sache.“
„Ja.“
„Verstehen deine Teilnehmer das denn?“
„Ich glaube, dass nach dem Seminar einiges davon angekommen ist, ja.“
„Das ist wahrscheinlich das Nadelöhr, durch das …“
„Ja.“
„… jeder durchgehen muss, bevor überhaupt die ganze Idee ansatzweise bei den Menschen ankommt. Sonst sind es eher noch Vorstellungen.“
„Deswegen brauche ich die vier Tage und kann nicht nur einfach einen Vortrag machen. Es geht jeden Tag viermal eineinhalb Stunden ungefähr. Meistens brauche ich einen Tag, um sie kennenzulernen. Neulich hatte ich eine Gruppe, die Leute haben gemeinsam meditiert, die haben es geschafft, mir bereits in der Vorrunde alles zu geben, was ich brauche. Das ist nur einmal so passiert. Sonst kommt es durch die Einwände. Ich sage im Seminar: ‚Jeder, der einen Einwand hat, muss das jetzt formulieren.‘ Denn meine Erfahrung ist, dass die Leute nicht weiter zuhören können, wenn sie Einwände haben.“
„Ja, sie bleiben dann die ganze Zeit daran hängen. Das muss erstmal weg.“
„Das merke ich sofort. Da ist ein Haken. Deswegen kann ich nur Seminare machen. Bei Vorträgen habe ich ein Problem.“
„Ja! Ich meine, dieses Spürende und Wahrnehmende, was du als Kind so stark hattest, hast du ja jetzt auch noch. Ich stelle mir vor, dass du das bei deinen Seminarteilnehmern sehr schnell erfasst.“
„Durch die Gesichter.“
„Und die Gruppe der Meditierenden brachte schon gleich was mit, sodass gar nicht so viel gesprochen werden musste.“
„Sie haben sofort die Kraft gehabt zu sagen, was für Probleme sie mit der Dreigliederung haben. Das ist das, was ich wissen muss. Einer fing an und dann hat der Reihe nach jeder gesagt, wo es hakt.“
„Und dann hast du alles Material, was du brauchst, um die nächsten Tage zu gestalten.“
„Ja. Bei einigen, das ist lustig, kann ich erraten, was sie denken. Ich habe da für eine Person gesprochen, und die hat gesagt ‚Du darfst nicht meine Gedanken lesen!‘“
Sylvain lacht laut.
„Aber sie hatte so ein Gesicht – das konnte man irgendwie hören!“
„Du kannst es ja öfter mal probieren, dann hast du bestimmt eine Trefferquote von 97 Prozent oder so!“
„Was im Seminar sehr schnell zum Problem wird, ist, dass sie zwar was von mir hören wollen, aber nicht voneinander. Und wenn einer sehr stark zu kämpfen hat mit dem, was ich zu zeigen versuche, und sich die ganze Zeit wehrt, weil ich gesagt habe ‚das muss auf den Teppich‘, dann kann es schnell für die anderen zu viel werden. Dann muss ich am Anfang sagen, dass ich nicht moderieren kann. Ich kann mich nur hineinversetzen in das, was er bringt, und dann muss jemand anderes moderieren, oder sie müssen es untereinander in den Pausen klären. Ich kann mich nicht darauf konzentrieren, ob es den anderen zu viel ist. Sondern ich muss herausfinden, ob es jetzt schon passt, etwas dazu zu bringen, was erst später kommen würde und so weiter. In Unternehmen zu arbeiten ist gut, weil die Leute sich untereinander schon kennen. Es gab ein Treffen, wo sie jemanden rausgeschmissen haben. Das war ihre Entscheidung. Denn die Person wollte nicht zuhören, sondern es als Plattform nutzen, um selber etwas zu sagen, und das haben sie nicht ertragen.“
„Ja. Ich finde es superspannend, das zu erfahren. In dem Buch von Matthias und Alex, das ich lektoriert habe, wurde die soziale Dreigliederung mit dem Menschen verglichen. Mir ist besonders aufgefallen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Kampf um die existentielle Grundlage mitsamt seinen Folgen und dem Nervensystem. Habe ich das richtig gesagt?“
„Jaa.“
„Wirtschaftlich sicher zu sein, unser großes Ziel. Alle Menschen haben, was sie brauchen, und alle fragen: ‚Was brauchst du?‘ und es funktioniert alles. Keiner leidet Hunger, keiner muss kämpfen … oder Angst haben, ob er seine Kinder morgen noch ernähren kann. Wenn das so schlimm ist, leidet das Nervensystem.“
„Wenn man überlegt, ob das Soziale was Organisches hat, kann man sehr schnell Fragen haben. Wie wirkt sich das Organische vom Menschen auf das Soziale aus? Wie wirkt sich das Soziale auf den Menschen aus? Dann ist es eine äußere Wirkung, die man da sucht. Wo ist eine Ursache für eine Wirkung, hm? Oder man kann nach einem Vergleich suchen. Das hat nichts mit Ursache Wirkung zu tun.“
„Eine Metapher.“
„Es ist eine Ähnlichkeit da. Du hast gefragt, wie das Soziale sich auswirkt auf den einzelnen Menschen. Man muss ganz klar sehen, welche Frage man hat. Alle drei sind berechtigte Fragen, aber die Antwort ist dann immer eine andere. Viele in den Seminaren suchen nach dem, wie der Mensch sich auf das Soziale auswirkt. Denn sie sind so gepolt, dass es um dich geht und um das Individuelle. Während Marxisten eher gucken, wie wirkt sich das Soziale auf den Menschen aus. Aber das ist den meisten fremd – überhaupt die Vorstellung, dass es sowas geben könnte. Sie kommen nicht mit dem Vergleich. Das tut aber Steiner. Er arbeitet nicht mit Ursache Wirkung, sondern mit dem Vergleich des Menschen mit dem Sozialen.“
„Das ist dann schon wieder so ein Nadelöhr.“
„Ja.“
„Man muss erstmal die Begriffe klären, was wer womit eigentlich meint.“
„Ja. Eigentlich benutzt man dieselben Worte, aber man muss erstmal dahinterkommen, was die Person sucht. Das ist auch so ein Punkt, wo es Probleme gibt. Wenn ich merke, dass die Frage stark ist, kann ich diese drei Möglichkeiten erklären. Das mache ich also nicht in jedem Seminar.“
„Das klingt für mich so, dass der Mensch selber zunächst einmal erkennen muss, was ihn antreibt, welche Fragen er hat und welche Vorstellungen sich daraus schnell und automatisch ergeben haben, um sich dann bewusst zu werden: Wie entsteht daraus mein Blickwinkel auf die soziale Dreigliederung?.“
„Ja.“
„Das Bewusstsein darüber muss erstmal erarbeitet werden, so kommt mir das jetzt vor, bei jedem einzelnen, bevor die Idee der sozialen Dreigliederung, die du unterrichtest, überhaupt brillenfrei …“
„Ja.“
„… aufgenommen werden kann.“
„Hmh mhh.“
„Und gleichzeitig sind wahrscheinlich die Belange der einzelnen Individuen wichtig, denn die sind ja ein Motiv dafür, dass sie sich dafür interessieren und zum Seminar kommen.“
„Ja. Deswegen ist die Vorstellung wichtig. Für mich können da viele Sachen kommen, die ich gar nicht kenne. Besonders wenn es sich um Leute handelt, die noch gar nichts oder weniger von der Anthroposophie kennen.“
„Also gibt es die Leute, die über die Anthroposophie zur sozialen Dreigliederung kommen und das Geistige in ihr suchen, obwohl es darum nicht geht, und es gibt die Leute, die vom Sozialen her zur sozialen Dreigliederung kommen.“
„Und da ist es für mich eigentlich fast leichter.“ Sylvain macht eine Pause und lacht dann. „Denn so gehe ich eigentlich selber ran! Ich bin nicht durch die Anthroposophie zum Sozialen gekommen. Sie hat die Form gegeben, wie ich mich damit beschäftige, aber das, was mich zum Sozialen gebracht hat, war das Mitleid.“
„Mitgefühl …“
„Mitgefühl. Das habe ich nicht durch Anthroposophie.“
„Das hattest du vorher.“
„Ja.“
„Es könnte sein, dass das, was du vorher schon hattest, mit dafür zuständig war, dass du zur Anthroposophie gekommen bist.“
„Kann auch sein. Aber ich habe es dort nicht gefunden. Man konnte bei den Leuten kein Mitleid spüren.“
„Nee. Das ist bis heute immer noch so.“
„Ja.“
„Ich habe immer wieder den Eindruck, dass diese Ader im Menschen, das Mitfühlen, auf den anderen zu schauen, dass das dort eher verkümmert ist. Das reine Mitgefühl, nicht das astralisch verunreinigte, sondern das aus dem Herzen, das ist dort oft nicht zu spüren.“
„Was man spüren kann, ist große Offenheit. Das geistige Interesse ist wirklich sehr stark da und auch an sich selber zu arbeiten, das ist also trotzdem beeindruckend. Als die Mauer gefallen ist, habe ich die Kernpunkte der sozialen Dreigliederung gelesen, und hatte überhaupt nicht erwartet, was darin stand. Ich habe eher erwartet: Du musst an dir arbeiten und dann kommt man weiter. So war meine Haltung in dem Moment. Und dann kamen ganz andere Aspekte dazu. Dann war es für mich so, dass ich wieder ganz Zuhause war, nicht nur halb zuhause.“
„Mit dir.“
„Ja.“
„Bei mir war es im Leben die durchgehende Linie: ‚Arbeite an dir. Wenn du erstmal dasunddas an dir bearbeitet hast, wird auch dasunddas im Leben anders sein.‘ ‚Ach, bei dir ist im Leben dasunddas soundso? Dann hast du eben dasunddas Thema noch nicht bearbeitet.‘“
„Das ist dieser Mangel an Mitleid, der so heftig dabei ist.“
„Da ist gar kein Mitgefühl dabei, und es ist so eine modernde Esoterik, eine sehr oberflächliche. Es geht nur mit Mitgefühl. Sonst kann man es gleich wegtun.“
„Ja.“
„Das sagst du grade. Das stimmt. Weißt du, ich habe in meinem Leben viel an mir gearbeitet und dazu alle möglichen Wege unternommen. Sehr sehr intensiv und auch sehr sehr eigenwillig. Der Hammer. Als ich älter war, merkte ich, dass es nicht eins zu eins umsetzbar ist, wie die Leute das sagen. Ich habe gemerkt, dass sich in meiner Wahrnehmung der Welt grundsätzlich was ändern muss. Und dann kam ich zur systemischen Beratung und Therapie. Hast du davon schonmal gehört?“
„Durch meine Frau! Aber nicht so, dass ich das wirklich draufhätte.“
„Aber dann kennst du das. Früher hieß das Familientherapie und die Therapeuten haben ganz stark geforscht, mit Zwei-Wege-Spiegel, haben Theorien entwickelt, Dinge ausprobiert, eine ungeheuer spannende Zeit, kurz gesagt: Mir wurde dadurch sehr bewusst, dass wir nicht nur durch unsere Biographiearbeit, unsere starke Absicht, durch Fleiß, durch den Mut, sich zu konfrontieren, etwas im Leben verändern, sondern dass das Drumherum, das System, wie auch immer wir es in einer konkreten Situation definieren, auch eine Rolle spielt. Nicht alles steht also in unserer Macht, und hier zeigt sich ein versteckter Hochmut: ‚Ich kann dasunddas, wenn ich dasunddas aufarbeite.‘ Das ist nicht so. Die Zusammenhänge mit dem Drumherum sind so wichtig und so stark; und in denen stehen wir drin. Wir haben nicht diese Macht. Wir haben starke Macht; die ergreifen die meisten nicht. Aber diese Macht haben wir nicht. Und das erinnert mich ein bisschen an das, was du sagst. Du fühltest dich ganz, als die soziale Dreigliederung dazu kam. Das ist etwas anderes, als nur an sich zu arbeiten. Du hast ja gesagt, dass du viel an dir gearbeitet hast, was ja viele deiner Schüler auch machen, was ja auch super ist. Aber durch die soziale Dreigliederung wurde es rund, weil all das, mit dem wir verbunden sind, und mit dem wir uns vielleicht besser verbinden könnten, eine so große Rolle spielt.“
„Hmh mhh, ja. Grundsätzlich sagte Steiner, dass es beim Wirtschaftsleben grade um das System gehen wird. An dem System muss man dann arbeiten, während man im Geistesleben eher an sich arbeiten muss. Und diese Polarität müssen wir ertragen … dass beides stimmt.“
„Das ist aber wunderbar!“
„Das System ist viel weiter als wir. Und an dem muss man arbeiten. Steiner sagt, wenn man im Wirtschaftsleben guckt, dass die Struktur schon da ist, merkt man, dass man noch nicht aus ihr gelernt hat. Man ist also noch im Kopf zurückgeblieben. Die Struktur ist schon weiter, dass man eben nur noch für andere arbeitet und andere für einen. Das war früher nicht so; da konnte man sehr viel Selbstversorgung machen. Und jetzt durch die Weltwirtschaft ist alles, was man hat, abhängig von dem, was andere tun. Er sagt, dass das System viel weiter ist, als wir mitkommen, und an dem muss man arbeiten. Da muss ich versuchen, dass die Leute sich umstellen können und nicht relativieren. Nicht dass das eine das andere relativiert.“
„Das aber schwer! Das ist hochanspruchsvoll! Oder? Das ist hochanspruchsvoll. Das ist eigentlich eine Art Weisheitsstudium. Ich bekomme ja jetzt nur ganz kleine Augenblicke mit; die sind wie ein Samenkorn, die du mir gibst, so mächtig, dass ein Riesenbaum daraus werden kann. Aber ich verstehe es ja noch lange nicht.“
„Hm.“
„Aber ich bekomme eine Ahnung davon, wie tief dieses Wissen ist, wie sehr es in den einzelnen Menschen eingreift, und dass es ganz ganz viel mit Weisheit zu tun hat. Mit Weisheit. Diese zwei Nadelöhre, die du mir jetzt genannt hast, wirklich zu begreifen, erfordert Weisheit und vergrößert Weisheit.“
„Hmh mhh. Das Wort benutze ich selten. Das darfst du.“
„Gibt es da ein anthroposophisches Wort für?“
„Weiß ich nicht.“
„Haben wir denselben Begriff, du und ich, von Weisheit?“
„Weiß ich nicht. Bis jetzt habe ich noch keinen. Ich kann von Organismus sprechen. Deshalb habe ich gesagt: Das darfst du sagen.“
„Ach, das ist doch immer so schön, wenn man denselben Begriff hat und sich dann versteht. Die Bodhisattvas und Buddhas sprechen ja von den beiden Flügeln Weisheit und Mitgefühl, was auch die Ritualgegenstände Vajra und Glocke versinnbildlichen. Vajra steht für Mitgefühl und die Glocke für Weisheit. Sie haben eins in jeder Hand, während sie rezitieren, um mit beiden vereint auf die Welt zu blicken. Die Weisheit ist groß und so tief und so allumfassend. Die Konfrontation mit sich selbst, um herauszufinden, welche Erwartungen man an die soziale Dreigliederung hat, was man an Gedanken mitbringt, von wo man kommt, sehe ich darin das Geistesleben oder komme ich vom Sozialen – das muss erstmal bewusst werden!“
„Für mich gibt es fast so eine Art Ironie. Viele denken sehr stark, dass es davon abhängt, was ich aus mir mache. Aber es ist wenig Bewusstsein dafür vorhanden, wie man geprägt worden ist, dadurch dass man meistens vom Bürgertum herkommt. Und nicht nur Reflexe hat, die dadurch kommen, dass man in der Anthroposophie gesucht hat. – Es ist gut, das so zu machen, denn in der Regel findet man etwas anderes, als man gesucht hat. – Aber das Bewusstsein über die Prägung ist sehr gering. Ich habe Glück, denn meine Mutter war Arbeiterin und mein Vater kam aus dem Kleinbürgertum. Mir war die Prägung als Kind auch nicht so bewusst, aber mir wurde mit vierzig fünfundvierzig ein französisches Buch über Soziologie empfohlen, und da habe ich manches wiedererkannt. So merke ich, dass ich nicht ganz in dem Bürgerlichen aufgehe. Da hat sie was zu beigetragen. Im Anthroposophischen gibt es zu wenig Bewusstsein darüber, dass man sich in der Tat doch nicht selber gemacht hat. Sehr vieles sind Gewohnheiten aus einer Klasse.“
„Welche Gewohnheit zum Beispiel?“
„Gerade die, dass es alles auf dich ankommt. Im Bildungsbürgertum haben sie kein Geld gehabt, durch das sie was sein konnten, sondern sie mussten lernen und so weiter, um was zu sein. Dass sie sich nicht davon lösen können, hat auch damit zu tun, dass sie damit groß geworden sind.“
„So tief greift das eigentlich ein …“
„Ja.“
„Wenn man sich wirklich damit beschäftigen will, und nicht nur die Vorstellungen von dem haben will, die man sich permanent bastelt, muss man tatsächlich erstmal erkennen: Was bringe ich mit?“
„Ja. Meine Mutter zum Beispiel hat null Ehrgeiz gehabt für mich, was ich werden soll. Das ist bei den anderen sehr stark.“
„Du musst auch Zahnarzt werden. Oder: Du musst Pianist werden.“
„Ja, genau. Ich bin ohne eine Spur davon groß geworden.“
„Ohne die Erwartung oder den Druck oder die Gefahr, jemanden zu enttäuschen … Das ist ein schöner Luxus, den du da hattest.“
„Da merke ich, dass die meisten davon geprägt sind und es nicht merken.“
„Vielleicht sind es deshalb so viele aus dem Bildungsbürgertum, weil es so viel Akademisches erfordert, den Steiner zu lesen.“
„Jaa, aber nicht die Sachen zur Dreigliederung.“
„Aber die Leute, die zur Dreigliederung kommen, haben ja meistens vorher …“
„Ja, genau. Das heißt, es liegt eher daran, dass diejenigen, die sich mit Dreigliederung beschäftigt haben, nicht imstande waren, so zu reden, dass andere das auch verstehen, die nicht dorther kommen.“
„Es ist schön, dass du das sagst.“
„Ja? Vom Verständnis her ist es viel leichter, die soziale Dreigliederung zu erklären bei Leuten, die nicht daher kommen. Steiner hat die Arbeiter auch sehr gut erreicht.“
„Ich weiß. Es gab Vorträge speziell für die Arbeiter. Er konnte sich sehr sehr gut auf das jeweilige Gegenüber einstellen und sehr anders sprechen, je nach dem, mit wem er es zu tun hatte. Und es wird nicht qualitativ besser, wenn man’s kompliziert ausdrückt. Die Sache an sich ist oft einfach. Und es einfach zu formulieren und zu beschreiben, ist oft genial.“
„Ich finde, dass er komplexe Sätze hatte, aber es nicht komplizierter machte, als es sein muss. Er bringt die Sachen auf den Punkt und hat keinen Moment des Stolzes.“
„Eben! Eben!“
„So kompliziert zu reden, dass es nicht alle verstehen können.“
„Genau! Genau!“
Wir lachen.
„Immer dieses Ego: Ich bin doch ein besserer Professor … Diese ganzen oft nicht bewussten Avancen ‚guck mal wie toll ich bin‘ spielen bei Steiner natürlich überhaupt keine Rolle. Da ist eigentlich kein Wort zu viel. Und auch keins zu wenig. Keins ist angeberisch.“
„Die Leute, die zu mir kommen, kommen meistens aus der Anthroposophie. Wenn man die soziale Dreigliederung über das Anthroposophische hinaus bekannt machen würde, würde es viel mehr Leute erreichen, die nicht über die Anthroposophie erreichbar sind.“
„Und du würdest die Leute erreichen, die das viel einfacher und direkter verstehen.“
„Ja.“
„Weil sie so aufgewachsen sind und den ganzen Überbau nicht haben.“
„Genau.“
„Viele haben einen Überbau, der ist auch nicht so rein, sondern voller Vorstellungen und voller Astralischem, selbstgebaut. Das meiste ist ja nicht aus dem höchsten Ideal, aus der höchsten Sittlichkeit formuliert und gedacht, das ist ja normal, ist ja menschlich. Und Leute, die mit ihren Händen arbeiten, eine Mutter, die näht, ein Handwerker, ein Vater, der die Kühe melkt, die haben vielleicht einen viel einfacheren direkten reineren Zugang als die, die schon so viel gedacht und gelesen haben.“
„Ich bin leider beschränkt auf die Leute, die zu mir kommen und dann entsprechend Sachen mitbringen. Aber für die Dreigliederung wäre es besser, wenn man auch die anspricht, die gar nicht aus der Ecke kommen.“
„Könntest du nicht speziell Leute aus bestimmten Handwerken oder so …“
„Ich kann es nur im Dialog machen. Das heißt, nicht als Seminar oder so. Und auch keinen Vortrag. Aber wenn ich irgendeinen Austausch habe, dann kann ich lange genug zuhören, dass ich weiß, an welcher Seite ich ansetzen kann.“
„Vielleicht könntest du dich spezialisieren auf diese Menschen. Aber dann müssten die Leute von dir wissen.“
„Genau. Aber da habe ich noch keinen Weg gefunden. Aber ich habe zweimal bei einem Unternehmen sprechen können, und die, die dabei die größten Schwierigkeiten hatten, waren die, die mit Anthroposophie zu tun hatten. Im Seminar habe ich nur solche Leute, deswegen kann ich mich drauf einstellen, aber wenn ich in einem anderen Zusammenhang bin, wo andere Sachen möglich wären, dann wird es deutlich!“
Sylvain lacht.
„Ah! Interessant, diese Erfahrung! Es wäre wirklich toll, wenn deine Seminare auch speziell für diese Zielgruppe da sein könnten. Über Vitamin B oder über Werbung.“
„Ein Weg könnte über die Betriebsräte gehen. Ich habe einen Kollegen, der das Jahrzehnte lang begleitet hat und beraten, der hat einen Text geschrieben, in dem er die Dreigliederung darstellt im Anschluss an das Betriebsräte-Gesetz. Ich glaube, die meisten, auch in anthroposophischen Unternehmen, haben nichts mit Anthroposophie zu tun. Das heißt, man könnte es gut dorthin bringen. Bisher ist es noch nicht dazu gekommen, aber ich hoffe. Darauf würde ich mich sehr gern einlassen, denn die zweimal waren sehr … Das tut gut …“
Teil 3
Seit dem Sozialen muss man im Kreise denken.
Sylvain Coiplet über Arbeit/Bildungsbürgertum/Organismus/Vergleich
„Es tut gut … Weil die Erfolge und das Verständnis zu sehen sind.“
„Ein Punkt, den man nicht so gut verstehen kann, wenn man bürgerlich geprägt ist, ist der, wenn Steiner über Arbeiter spricht. Das wurde eigentlich immer ins Gegenteil verkehrt. Zum Beispiel, dass man möglichst Geld kriegen sollte, um das machen zu können, was man für richtig hält; wenn man denkt, dass die Welt das braucht. Das ist für mich typisch für diese Prägung.“
„Aus meiner Sicht ist das ein typisch kapitalistischer Gedanke.“
„An dem Punkt ist es ähnlich, he?!“
„Es ist etwas Soziales drin, wenn man eine gute Absicht hat, aber mit einem natürlichen Kreislauf hat es ja gar nichts zu tun.“
„Ja. Steiner meint, es war früher so, dass man damit weitergekommen ist, sowohl in der Landwirtschaft als auch im Handwerk. Aber ab der Industrialisierung ist es nicht mehr so. Das heißt, es geht gar nicht darum, was du gern machen würdest, sondern darum, was gebraucht wird. Es muss überhaupt nichts damit zu tun haben. Das kommt bei den Leuten gar nicht an. Sie können mit dieser Änderung und mit diesem Ansatz überhaupt nichts anfangen. Da merke ich, wie sich die Prägung auswirkt und sie alles verdrehen, was Steiner dazu gemeint hat.“
„Hast du eine Idee, woran das liegt?“
„Seit zehn Jahren wundere ich mich nicht nur darüber, sondern meine, dass es durch die Prägung kommt. Ich bin am Rätseln, was da zusammengekommen ist. Außer der Prägung ist es auch ein Ideal. Aber ein Ideal, was ein bisschen zu weit geht, nämlich dass das, was ich bekomme, wenn ich etwas für andere tue, nichts damit zu tun haben muss. Das ist eine Form der Selbstlosigkeit. Das Ideal, dass man gar nicht mehr gegenrechnen soll. Steiner meinte, dass man das nur in kleineren Gemeinschaften ausleben kann, die ein gemeinsames Ziel haben und deswegen darüber hinwegkommen, was der eine beiträgt und der andere davon hat. Dass man mehr oder weniger einen gemeinsamen Topf hat. Aber das setzt wirklich voraus, dass man nicht in der Zeit aufgeht, wie sie heute ist, sondern auf etwas vorgreift, was vielleicht später möglich ist. Das steht bei denen sehr stark, und sie merken nicht, dass es nur im Kleinen gemacht werden kann, nicht gesellschaftlich. Gesellschaftlich muss man genau rechnen, damit es aufgeht, dass jeder wirklich durchkommt. Und diese Haltung, dass man genau rechnen muss, können sie nicht ertragen.“
„Das ist aber dann interessant: ‚Warum kann ich das nicht ertragen?‘ Ich glaube, die Leute haben ganz subjektiv für sich ihren nächsten Schritt. Auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind. Sie möchten gerne einen nächsten Schritt haben, der etwas besser macht. Und diesen oftmals nicht selbst benannten aber existierenden Wunsch projizieren sie dann auf irgendwas, zum Beispiel auf die soziale Dreigliederung.“
„Ja.“
„Und es ist ja, glaube ich, auch so, wie du eben beschrieben hast: Jemand muss Pianist werden, muss muss muss. Wenn der dieses ‚ich mache, was ich möchte, fühle oder weiß endlich nach 45 Jahren oder so, das möchte ich leben, das ist wichtig für die Welt‘ – wenn der an diesem Punkt steht für sich selbst, weil er nie aus sich selbst leben durfte, sondern immer machen musste, was den Erwartungen entsprach, oder später im Leben Sachzwängen, Familie und so, unterlag, dass er endlich mal, was er spürt, tun kann! Wenn er an dem Punkt steht, dann kann er bei der Dreigliederung erstmal nur so denken.“
„Ja.“
„Er ist noch nicht weiter. Weil dieses Stück für ihn noch ganz wichtig ist im Leben. Wenn er das richtig gelebt hat und integriert hat und richtig weiß, wie es ist, aus sich heraus das Leben zu leben und zu gestalten, dann kann er auch den nächsten Schritt weitergehen und sagen: ‚Ich mache natürlich auch alle möglichen Arbeiten, die mit meinem individuellen Wunsch gar nichts zu tun haben, sondern die einfach jetzt wichtig sind für die Gemeinschaft, die Gesellschaft.‘ Verstehst du, was ich meine?“
„Ja.“
„Die Leute stehen an bestimmten Punkten. Grade die aus dem Bildungsbürgertum sind oftmals so fremdbestimmt und unter Zwängen gar nicht sie selbst. Ganz im Gegenteil zu dir und wie du aufgewachsen bist. Du bist ja sehr du selbst, von Anfang an schon. Das ist ja unterschiedlich, und manche Kinder kommen anders auf die Welt. Deswegen kann manchmal etwas nicht so genommen werden, was du sie unterrichtest, wie es eigentlich gemeint ist.“
„Ich weiß: An der Stelle habe ich noch nicht genug Mitgefühl. Da werde ich bissig.“
Sylvain lacht.
„Weil es nicht sozial ist. Weil es irgendwie egoistisch erscheint. Oder?“
„Ja.“
„Aber es ist nur aus einer Sicht egoistisch.“
„Was für mich in den letzten Jahren klar geworden ist: Steiner beschreibt diese Aufgabe, dieses Brüderliche, in der Form, dass man nicht berechnet, aber als Aufgabe der Anthroposophen unter sich. Das hat nichts mit Dreigliederung zu tun. Davon spricht er schon viel früher. In dem Moment, wo sie anfangen zusammenzukommen, 1904, sagt er immer wieder, dass sie sozial Schlüsse daraus ziehen sollen unter sich. Das ist das, was viele aufgreifen und dann versuchen, damit zu leben, dahin zu arbeiten. Das heißt, was ich hier als Ideal beschrieben habe, wird auch genährt durch Texte von Steiner. Mich hat es nur genervt, weil es meine Arbeit torpediert. Vor einigen Jahren ist mir klargeworden, dass es eine andere Aufgabe ist, die er ihnen da gegeben hat – eine Art Vorgriff auf die Zukunft.“
„Wie eine Übungsphase in einer Insider-Gruppe.“
„Genau.“
„Die auch ihre Berechtigung hat.“
„Genau. Und das kann ich jetzt integrieren: dass es auch seine Berechtigung hat. Vorher habe ich mich nur geärgert. Es passiert immer öfter, dass ich diesen Aspekt ganz am Anfang der Seminare bringe, wenn ich merke, dass das in der Anfangsrunde lebt. Und vor allem betone, dass es seit den 1970er Jahren so stark ist. Das heißt, viele dieser Versuche sind gescheitert. Da ist viel Resignation, dadurch dass man das mit der Dreigliederung verwechselt hat. Sie haben gedacht, dass sie es probiert haben und es ist gescheitert. Ich bringe das dann in der Form, dass ich sage: ‚Was ihr probiert habt, ist eigentlich gar nicht die Dreigliederung. Die ist der nächste Schritt, wenn ihr mal geübt habt. Wenn ihr das nicht geschafft habt, heißt das nichts über die Dreigliederung.‘ So ist es die Überwindung einer Resignation. Und nicht die Überwindung meines Ärgers.“
„Man könnte es ja sogar auch reframen, indem man sagt: Zum Glück ist es gescheitert, weil es zunächst ein Laboratorium war und letztlich in einen anderen Rahmen gehört. Das Reagenzglas ist geplatzt.“
„Hm, ja!“ Er lacht.
„So bist du ganz aus dem Schneider raus. Wenn es stimmt … Vielleicht liegt es in der Natur der Sache, dass es dort eine Grenze gibt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass es nicht klappt.“
„Ja. Ich habe eine Gruppe erlebt, die es vierzig Jahre lang geschafft hat. Ich habe sie erst kennengelernt, als sie auseinandergegangen sind und von mir was hören wollten. Das bestätigt, dass es scheitern muss, damit mit man sich an die Sachen ranmacht, die dran sind. Sie könnten es natürlich wieder versuchen, aber das ist wirklich nicht meine Aufgabe.“
„Den Leuten in deiner Gruppe verleihst du ja Flügel und ermunterst sie, wenn du sagst: ‚Wow, das habt ihr schon gemacht und gelesen, und ihr kennt euch damit schon aus, und natürlich ist es frustrierend, wenn etwas nicht klappt, aber wisst ihr was? Es hat auch was Gutes, denn …‘ und so weiter. Dann öffnen sich die Ohren. Dann gehört das Resignieren in das große Ganze rein als ein wichtiger Punkt.“
„Das wären ein paar Sachen, die in meinen Unterricht reinspielen. Deswegen rede ich viel über Kapital und auch Arbeit. Das gehört immer dazu. Und bei der Arbeit bringe ich das, was Steiner meint, einerseits, was es einem nicht bringen soll, und andererseits den Aspekt, dass man seit der Industrialisierung so wenig verbunden ist mit der Arbeit, dass man sie von außen beschränken muss. Ein Lehrer zum Beispiel denkt immer nach, da kann man nicht einfach Stopp sagen, aber bei der industriellen Arbeit muss man eine äußere Grenze ziehen. Und gerade die, die in ihrem Beruf aufgehen, haben Probleme mit dem Gedanken. Dass sie ihren Beruf behalten können, in dem sie aufgehen, ist gut für sie, aber nicht für das Verständnis, das heute immer wichtiger wird. Oftmals haben sie ihr Leben lang gekämpft dafür, dass sie machen können, was sie für richtig halten.“
„Was ja gut ist.“
„Ja! Aber ich versuche einen Weg zu finden, wie ich ihnen zeigen kann, dass es immer weniger Menschen sein werden. Dass sie aus dem, was sie geschafft haben, nicht schließen können, was gesellschaftlich dran ist. Es ist eine Art des Entdeckens eines fremden Gebietes. Steiner sagt, dass es nicht darum geht, dass der einzelne entscheidet, wann Schluss ist, wie zum Beispiel beim Lehrerberuf, sondern das muss man durch Gesetze äußerlich begrenzen.“
„Könnte man das Erkämpfen des Eigenen nicht als einen Mosaikstein mit hineinnehmen, indem man sagt: ‚Durch deinen Lebensgang hast du dasunddas entwickelt und das ist wichtig für den nächsten Schritt. Der nämlich ganz anders aussieht.“
„Ja.“
„Und ohne deinen Lebensgang, auf dem du dir dasunddas erkämpft hast, wäre es schwerer, den folgenden Schritt zu machen. Dass man den Leuten das nicht wegnimmt und sagt, dass ihr Denken da zu eng sei, weil es so in der Zukunft nicht gehen wird aus denundden Gründen, sondern dass man sagt: Es ist ein wichtiger Teil, den du gelebt hast, den nehmen wir mit rein. Geht das oder ist das von mir naiv?“
„Das weiß ich nicht, denn die Sachen zu finden, bei denen ich produktiv mit dem Widerstand umgehen kann, ist nicht meine Stärke. Für die Leute ist es oft eine Art Befreiung zu merken, dass, wenn man die industrielle Arbeit beschränkt hätte, man sich möglicherweise nicht mehr so kaputtmachen würde. Wenn die Option nicht wäre, acht Stunden in der Fabrik zu arbeiten, sondern zwei bis drei Stunden, dann hätten sie es vielleicht doch nebenbei machen wollen, neben dem, was ihnen wichtig war, und wären nicht am Widerstand fast zerbrochen.“
„Ja. Aber was ist mit den Leuten, die was ganz Tolles aufgebaut haben und merken: ‚Endlich habe ich es geschafft, aus meiner Kreativität heraus tatsächlich was Schönes in die Welt zu bringen!‘ Das kann ja nach Ego klingen, ist es aber nicht unbedingt.“
„Für mich ist es das nicht, weil sonst hätte man keine Lehrer. Das ist so ein alter Beruf, in dem man sich verwirklicht, indem man anderen hilft. Ich habe nur Probleme, wenn sie so einschränken, dass man nicht merkt, dass was dazu gekommen ist, was es vorher nicht gab. Aber die Sachen an sich sind für mich verständlich, und ich habe sogar Kollegen, die ein Bild vom Geistesleben haben, was eigentlich nicht stimmt. Dass sie meinen: Lehrersein ist nur Selbstverwirklichung und man müsse das von außen eingrenzen. Für mich stimmt das gar nicht, weil, wenn du das hast, bist du für die Kinder nicht brauchbar. Man muss ein Mitteilungsbedürfnis haben und nicht nur einfach sich toll finden, und es muss auch um die Kinder gehen und nicht um die Selbstverwirklichung der Lehrer. Bei der Kunst kann ich spüren, wie der Impetus da ist. Das braucht es, weil ich selber im Unterschied zu anderen Kollegen … Ich habe mit ihnen zusammen Dreigliederung studiert und sie haben über Eurythmisten gewitzelt, ohne zu wissen, dass ich das bin. An der Stelle bin ich auch auf beiden Seiten. Ich muss aufpassen, dass mich das nicht verbittert macht. Dass ich deswegen etwas härter und herber bin gegenüber den Künstlern, weil die …“
„… wegen dem Spott.“
„Nein, weil ich selber darauf verzichte, diesen Weg einzuschlagen. Das hätte ich auch machen können.“
„Das machst du aber nicht. Du bleibst dir treu.“
„Die Sachen sind dann erstmal für mich. Ich muss aber aufpassen. Ich habe einen Kollegen, wenn ich über Arbeit rede, sagt er den Leuten: ‚Dass er solche Sachen über Künstler sagt, macht er auch deswegen, weil er selber es nicht macht, obwohl er das gerne gemacht hätte.‘ Das ist ein französischer Kollege und ich glaube, es ist ein bisschen was dran. Durch meinen Tonfall spielt es rein und da muss ich ein bisschen aufpassen.“
„Wo du es selber merkst, geht der Schleifungsprozess weiter. Da sind wir wieder bei dem Du. Wenn der andere das über dich gesagt hat, kannst du dich daran schleifen.“
„Ja.“
„Jetzt habe ich ein bisschen eine Idee vom Wirtschaftsleben und vom Geistesleben und was es nicht ist. Und das Rechtsleben beschränkt die Arbeit und gibt einen starken Rahmen vor.“
„Ja, denn vom Wirtschaftsleben her würde man die Leute völlig durcharbeiten lassen beim Industriellen. Bei den anderen Sachen ist es kontraproduktiv. Bei nicht industriellen Berufen kannst du die Leute nicht mehr arbeiten lassen als sie eigentlich vertragen, weil das Ergebnis dann unbrauchbar ist wegen der Pflege; die Alten haben dann ihre Probleme damit.“
„Aber die Leute, die in der Fabrik arbeiten …“
„Da ist es egal, wie sie sich fühlen, es ist brauchbar.“
„Es ist brauchbar und wenn der Mensch nicht mehr kann, wird er wie ein Gegenstand ausgetauscht.“
„Ja. Ich erzähle gern, in China unter den Fenstern bei den Zulieferern von apple befinden sich Netze, weil viele es nicht mehr für lebens- und menschenwürdig gehalten haben.“
„Echt schlimm.“
„Ja. Also haben wir schon die drei.“
„Ja! Ich habe noch eine Frage zum Wirtschaftsleben und dem Nervensystem. Du sagtest, dass es eine Metapher ist. Ein sehr unausgeglichenes Arbeitsleben kann zu einer nervlichen Erschöpfung führen. Somit ist die Ursache-Wirkung-Ebene doch auch mit dabei.“ https://www.dreigliederung.de/publish/postkarte-vergleich
„Das war das mit dem Systemischen, hm? Du meintest, dass es nicht nur um das geht, was man selber tut, sondern dass auch von außen Veränderungen geben kann.“
„Du sagtest, der Vergleich sei gemeint, nicht das Ursächliche.“
„Beim Organismus. Steiner meint alle drei, aber wenn er vom sozialen Organismus spricht, meint er den Vergleich. Er spricht über die Wirkungen von Ausbeutung, aber so kurz, dass ich nicht schlau daraus wurde bisher. Die Soziologie schaut, wie die Umstände sich auf die Menschen auswirken, und sagt: Erstmal setzt der Mensch etwas aus seinem Geist heraus in die Welt, in das Soziale, aber dann ist es da. Dann wirkt es als Gegebenes zurück, so wie die Außenwelt auf einen wirkt. Steiner meint, dass Verschiebungen entstehen, sodass man nicht sagen kann, dass es spiegelbildlich ist. Dass das, was etwas bewirkt, auch wieder ein Echo bekommt, das dann anderswo wirkt. Aber das sagt er nur einmal. Und ich brauche zwei drei Mal, um daraus schlau zu werden. Da spricht er auch über die Auswirkungen von falschen Gesetzen und vom falschen Wirtschaften auf den Menschen, aber komischerweise nicht im jetzigen Leben. Das ist etwas, das man mitnimmt. Steiner nimmt den Vergleich, und das ist eine Reaktion darauf, dass das damals üblich war und dass da problematische Vergleiche waren. Das heißt, er nimmt jahrelang Stellung zu den problematischen. Und dann bringt er den Vergleich selber ins Spiel, aber ganz anders, als die anderen das tun. Wie du eben meintest: Wirtschaft und Nervensystem, da würde man denken, dass das Geistesleben ist. Nervensystem – Kopf. Aber er bringt das auf ganz andere Art. Erstmal musste ich zeigen, wie er auf die Leute eingeht und das Stück für Stück bringt, weil der Ausgangspunkt die Biologen sind, die über Organismus sprechen und dann am Ende ein Kapitel haben über das Soziale. Aber das sind nicht unbedingt sehr soziale Menschen. Ich musste also in dem Werk rechtfertigen, warum er erst kritisiert und es dann aber selber macht, und zeigen, warum es nicht dasselbe ist. Ich habe schon ziemlich früh für mich geklärt, was da passiert ist, aber was für mich neu war, war diese Fragestellung Vergleich – Ursache/Wirkung. Das ist mir erst vor zwei drei Jahren klargeworden, deswegen habe ich die Einleitung erweitert. https://www.dreigliederung.de/essays/steinerzitate-2-natuerlicher-und-sozialer-organismus
Wenn man nach Wirkung sucht, hat man eher wie in der Antike Kopf – Geistesleben und Gliedmaßen – Wirtschaftssystem. Aber das wäre die Auswirkung des Menschen auf das Soziale; wie es sich abbildet im Sozialen. Da die Antike alles vom Menschen aus gedacht hat, hat sie diesen Aspekt. Und der ist nicht falsch. Und neu ist, dass man mit dem Marxismus andersrum guckt: Wie wirkt sich das Soziale aus? Da spricht er von der Rückwirkung. Es gibt zwei Vorträge, in denen er das beschreibt. Ich gebe nur eine Spur, weil das nicht im Text steht. Es ist eine Frage der Reife. Erstklässler reden anders miteinander als Zweitklässler Das, was ein Echo macht von außen, ist das, wo eine Verwandtschaft entsprechend der Stufe, in der man steht, besteht. Steiner sagt, das Ich des Menschen ist auf der ersten Stufe zum ersten Mal da und die mineralische Welt ist zum ersten Mal da. Beide haben Echo. Und so macht er das dann mit den drei anderen. Er schaut, auf welcher Stufe sie in ihrer eigenen Entwicklung sind. Deswegen kann der Mensch heute das Mineralische, das Tote, gut herstellen. So ist die Spur, warum man denkt, ich und physische Welt haben nichts miteinander zu tun, aber warum doch in der Wirkung von außen was passiert. Dasselbe benutzt er für die Medikamente. Wenn er sagt, dass das Pflanzliche im Menschen krank ist, dann sollte er die Medikamente nicht bei den Pflanzen, sondern bei den Tieren suchen. Da ist so eine Verschiebung. Seit dem Sozialen muss man im Kreise denken. Man bewirkt das Soziale und das wirkt dann zurück. Abwechselnd Anthroposoph und Marxist.“
Sylvain lacht.
„Eigentlich ist das eine schon das andere und das andere wieder das eine.“
„Nur zeitverzogen, sagt er.“
„In einer Minibruchteilsekunde.“
„Oder eben ein Leben. Das, was wir z. B. in der Architektur haben, ist das, was die Menschen früher gedacht haben. Ich habe mehrere Jahre nicht in Häusern, sondern in Höhlen gelebt. Es war eine Gegend in Frankreich, wo über achtzig Prozent der Menschen in Höhlen gewohnt haben, weil der Stein das hergibt. Das Vorderteil war Renaissance und das hintere Teil war ausgehöhlt, ganz andere Formen. Man musste sich nach dem Stein richten. Als ich einen Rückblick gemacht habe, hat meine Mutter geguckt, dass wir einige in der Gegend besuchen. Da haben wir nachträglich einen Wald gefunden, in dem es fünf Höfe aus verschiedenen Jahrhunderten gab. Der erste 12. und der letzte 19. Jahrhundert. Im ersten haben sie nur die Formen, die mit der Natur zu tun haben, und im letzten haben sie verkrampft versucht, alles nachzuahmen, wie es in einem echten Haus ist. Sie haben den Kamin nachgebaut, wie er in einem echten Haus ist … Alles, wo es überhaupt keinen Sinn gemacht hat. Aber sie haben es in den Stein nachgebaut. Das wirkt auf den Menschen. Aber das sind frühere Menschen; deswegen zeitverzogen.“
„Das ist aber schön, dass du in Höhlen gelebt hast.“
„Jaa, das habe ich genossen. Das war zwischen 12 und 15. Es war eigentlich ein abgelegener Teil von einem Schloss, das an einem Hang lag und nicht mehr zum Schloss gehört hat. Das Haus ging über sechs Stockwerke vom Tal bis nach oben. Von draußen hat man also nur die Hälfte gesehen. Jeden Raum konnte man von drei verschiedenen Orten erreichen. Das wirkt nach.“
Wir runden unser Gespräch ab und ich erzähle Sylvain noch einmal von dem Büchlein, das Matthias Augsburg und Alexander Droste zum Online-Kongress geschrieben haben. Sylvain freut sich darauf, es zu lesen. https://shop.tredition.com/booktitle/WEGE_in_eine_GEMEINWOHL_GESELLSCHAFT/W-930-798-694
„Wenn ich etwas lese, ist für mich die Frage nicht nur, ob es stimmt oder nicht, sondern wer geschrieben hat.“
„So wie ich dich heute Nachmittag verstanden habe, geht es auch gar nicht anders. Die Wahrnehmung vom anderen Menschen, die du ja hast, ob du willst oder nicht, du hast sie …“
Wir lachen.
„… aber dass es letzten Endes der einzelne Mensch auch immer mehr kapieren muss, was er in sich trägt, damit er dann den freieren Blick darauf haben kann. Das habe ich heute ganz stark mitgenommen. Und deswegen kann es dir nicht nur darum gehen, ob etwas richtig oder falsch ist, oder wie weit etwas von der eigentlichen Idee entfernt ist, oder ob es ein Irrweg ist, sondern du siehst diesen Menschen ja mit.“
„Ja. Ja. Und dadurch lerne ich auch über die Person.“
„Ja, und du lernst auch, das anderen Menschen weiter zu vermitteln.“
„Ja.“
Nun ist es Zeit für die Verabschiedung und ich strahle:
„Vielen herzlichen Dank für dein Gespräch. Wir kennen uns gar nicht und haben uns trotzdem so offen unterhalten. Vielen herzlichen Dank dafür.“